In einer Dissertation zum Thema Stress und Selbstzugang habe ich gelesen, dass Entscheidungen, die unter Stress getroffen werden, weniger intrinsisch motiviert sind. Das ist einige Jahre her. Damals habe ich etwas gebraucht, bis mir die Bedeutung davon klar wurde. Stress trennt uns von unseren Zielen und deren Erreichung und damit von unseren Wünschen und Bedürfnissen.
Der Wassertropfen an der Scheibe
Ich sitze auf meinem Bürostuhl im Einzelbüro eines großen Unternehmens und starre umher. Der Wassertropfen am Fenster bekommt mehr Aufmerksamkeit als die jüngste Mail meiner Führungskraft. Es ist, als versteckte ich mich in mir. Seit geraumer Zeit liegen Dinge auf meinem Schreibtisch, ich bekomme sie nicht weg, finde keinen Anfang und auch kein Ende.
Wenn jemand in mein Büro kommt und wieder etwas von mir möchte, neue Erwartungen an mich gestellt werden … kann ich mich beherrschen. Sobald die Person weg ist oder das Meeting zu ende, geht es los. Ich bin mir nicht sicher, ob das Gefühl aufsteigender Panik daher rührt, eine weitere Aufgabe zu bekommen, der ich nicht mehr Herr werde, oder eher daher, dass die Person mich enttarnt und meine wahre Befindlichkeit entdeckt.
So habe ich selbst vor Jahren eine Phase unterschiedlicher, gefühlt (über)großer Herausforderungen empfunden. Heute weiß ich, dass damals nicht mehr meinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen gefolgt bin.
Ist die Aufgabe selbst gewählt oder zugewiesen?
Eine Studie untersuchte die Verbindung zwischen Cortisol-Freisetzung und der Tendenz zugewiesene Ziele falscherweise als eigene anzunehmen. In der Studie wurden 48 weibliche Probanden Stress ausgesetzt.
Während sie 8 Minuten lang Füllaufgaben durchführten, wurden sie mit unkontrollierbaren und unvorhersehbaren lauten Audiosignalen konfrontiert. Vorher sollten sie sich aus einer Liste leichte Sekretariatsaufgaben (z.B. „Telefonnummern heraussuchen“, „Ordner beschriften“) auswählen, nach einer kurzen Unterbrechung wurden ihnen nochmal ebenso viele Aufgaben zugeteilt, weil der „Boss“ es so wollte. Vor und nach der 8 Minuten-Stressinduktion füllten sie Fragebögen aus und gaben Speichelproben ab, um den Cortisol-Spiegel zu bestimmen.
Nach der Stressinduktion wurden sie nun befragt, welche Aufgaben sie vorher selbst gewählt hatten und welche ihnen zugewiesen wurden. Tatsächlich wurden signifikante Zusammenhänge zwischen einem steigenden Cortisol-Spiegel und der Tatsache festgestellt, dass die Probandinnen nicht erinnern konnten, ob die Sekretariatsaufgabe selbst gewählt oder zugewiesen war.
Andere Ziele mit den eigenen verwechseln
Also nochmal ganz langsam, zum Nachvollziehen. Wenn wir unter Stress stehen, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass wir nicht mehr erinnern, ob unsere Ziele von uns selbst oder von anderen gewählt wurden. Stress trennt uns von unseren Zielen. In Beispiel der Studie sind das nur kleine Aufgaben bzw. Ziele. Was aber, wenn wir dauerhafter Stressbelastung ausgesetzt sind?
Dann kann das zu Einschränkungen in unserem Selbstzugang führen. Der Fachbegriff dafür lautet Selbstinfiltration. Und die meint, dass wir eigene Wünsche oder Entscheidungen mit fremden verwechseln.
Und die meint, dass wir eigene Wünschen oder Entscheidungen mit fremden verwechseln. So etwas kann den Lebensfokus ungesund verschieben. Es gab Tage an denen ich früh und dringend von zuhause weg musste, weil ich Druck verspürte. Ich wollte zeitnah im Büro sein, damit ich endlich was geschafft bekomme. Das ging aber nicht mehr.
Wieder mehr Menschlichkeit im Beruf
An dieser Stelle könnten wir nun über negative Konsequenzen nachdenken; wie solche Mechanismen bewusst oder unbewusst missbraucht werden. Wichtiger scheint mir jedoch, dass wieder mehr Menschlichkeit in vielen Teilen der beruflichen Welt Einzug halten darf.
Den Schritt in ein Coaching habe ich damals nicht getan. Vielleicht war ich nicht ausreichend mutig dazu oder ich hatte einfach keine Idee davon. Irgendwann haben sich meine Rahmenbedingungen geändert, Entspannung trat wieder sein, die Selbstinfiltration nahm ab und das Bewusstsein über die eigenen Wünsche wieder zu.
- Was sind meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse?
- Wie bekommen meine Wünschen im Berufsalltag Raum?
- Wie gehe ich als Führungskraft mit diesen Themen bei meinen Mitarbeitenden um?
Einer meiner Kernaufgaben als Coach und Trainer sehe ich heute darin, Menschen bei diesen Fragen Schritt für Schritt zu unterstützen. Das kann im Einzelsetting beim Coaching sein oder beim Training mit dem Zürcher Ressourcen Modell®.
Mit sich Kontakt mit dem ZRM® und dem Bild meiner Wahl
Ein wichtiger Schritt im ZRM® ist die Bildwahl, mit der die Teilnehmenden in den Prozess einsteigen. Die Bildwahl ist eine reine Gefühlswahl. Damit diese gelingt und verlässlich ist, berücksichtigt der ZRM® -Prozess zwei Mechanismen. Nämlich vor der Bildwahl bekommen die Teilnehmenden ein Entspannungsangebot, damit der Verstand zur Ruhe kommt.
Während des Trainings überprüfen die Teilnehmenden ihre Bildwahl ausgewähltes Bild durch verschiedene Feedbackschleifen und Lernen sich so besser kennen. Das Bild und die Reflexion darüber sind ein wichtiger erster Schritt und helfen wieder besser in Kontakt mit sich selbst zu kommen und die eigenen unbewussten Bedürfnisse wahrzunehmen.
Im Beruf sind wir immer mit den Zielen anderer konfrontiert, seien es die der eigenen Organisation, der Führungskraft oder des Teams. Aus der eigenen Erfahrung scheint mir wichtig zu bemerken, dass Ziele Menschen vereinen können. Ebenso wichtig ist aber, dass wir uns immer wieder unserer eigenen Wünsche und Bedürfnisse gewahr werden und Rahmenbedingungen gestalten, in denen diese lebendig werden können.
Bleiben Sie Ihren Zielen treu
Ihr Felix Pritschow